Der Begriff der Gnade setzt ein Herrschaftsverhältnis voraus. Begnadigen, Gnade walten lassen kann ja nur jemand, den das Recht oder die Macht in Stande setzte, Unbill, Strafe, Qual, Folter, über andre kommen zu lassen. Statt von seinem Recht oder seiner Macht Gebrauch zu machen läßt er, seltener sie, Gnade walten.
„Gnade oder Recht?“
(Kleiner Exkurs: Im Übrigen eine Frage, unter die sich sehr schön eine preußisch-österreichische kulturelle Differenz subsummieren läßt: Der Deutsche Michel pocht auf das Recht. Wenn es so im Gesetz steht, muss es so exekutiert werde. Punkt. Wo kämen wir da hin. Schöne Ausrede für Mitläufer, Feiglinge, Faschisten, heinrich mannsche Untertanen aller Sorten. Der Österreicher Gustl hingegen läßt gerne Gnade walten. Weder aus Mitleid noch aus Einsicht in die Ungerechtigkeit der Gesetze. Aus Renitenz und Eitelkeit. Das Gesetz mag wer sein. Die Obrigkeit, der sich der Deutsche bedingungslos unterwirft, irgendwo auch. Aber ich, der Gustl Sedlacek von der Sektion 13, ich hier, ich bin ja auch noch wer. Und meine freie Auslegung der Gesetze, – oftmals im Sinne einer nicht vorgesehenen Milde, manchmal auch im Gegenteil, als nicht vorgesehene Strenge, meist im Sinne der nicht vorgesehenen Vetternwirtschaft – , die beweist mir meine menschliche Souveränität: mag das Gesetz sein, was es will: am Schluss bin ich es der Gustl, der entscheidet…und damit sozusagen über dem Gesetz und sogar über der Obrigkeit irgendwie steht….)
„Gnade oder Recht?“ ist also eine Frage, die die eigentlich wesentliche Frage schon aus dem Auge verloren hat. Wer hat die Herrschaftsverhältnisse denn so installiert, dass der verdammte Kurfürst überhaupt in den Stand gesetzt wird, den wunderbaren und siegreichen Prinzen von Homburg zu verurteilen oder zu begnadigen? Lassen wir Brecht, – oder noch besser: die Schmetterlinge!-, Kleist lesen und fragen, in wessen Interesse und warum und wie eigentlich wer wem vorgesetzt wurde? Wer hat die Macht und wer gab sie ihm? (Seltener: ihr?) Und wer läßt es sich warum gefallen, beherrscht zu werden?
Die Frage ist also nicht, warum der Gnadenlose gnadenlos ist, sondern wie wir die Welt so ändern können, damit niemand von der Gnade eines andren abhängig sei? Eine revolutionäre Frage im immer noch so josephinischen Österreich. (Und vielleicht ist das die Kehrseite des freieren Umgangs Gustls mit dem Gesetz: Dass hier meist der gute, gnadewaltenlassende Herrschende als Substitut für demokratische Verhältnisse funktioniert.)
Oder um es frei nach Heiner Müller zu sagen: „Eine Kommunistin gibt keine Almosen. Sie setzt sich dem Hungernden gegenüber und verzehrt genüsslich ihr T-Bone Steak. Nur so schafft man Klassenbewußtsein.“
In diesem Sinne sei der Aufruf zum Kampf gegen die Gnadenlosigkeit der Verhältnisse kein Appell an mehr Menschlichkeit, sondern ein Appell zur Veränderung der Machtstrukturen.